M. – Ein Fragment

»(…) K. versuchte ein unverfängliches Thema zu finden, einen Allgemeinplatz, zu dem jeder in der Gruppe Zugang hatte, doch vergeblich: M. hatte sich bereits warm geredet und begann über die Europatouren seiner Motorrad fahrenden Kontakte zu dozieren, die zufälligerweise Hells Angels waren.

M. war ein längst ausgewachsener, weil über fünfzigjähriger Mann, exakt 179 Zentimeter hoch, dezent bebrillt und faltenverziert, ohne wirklich alt auszusehen. Neben Muskeln und Fettpolstern, sorgsam über den ganzen Körper verteilt, nannte er breite Schultern und etwas kurz wirkende Beine sein Eigen, die gerne in sockenlosen Füßen mit Sandalen endeten. Das Gesicht verriet keinerlei Anzeichen einer vergeistigten Natur, sondern war stets sauber rasiert und mit blaubraunen Augen, einer mittelprächtigen Nase ohne Anzeichen bemerkenswerten Alkoholkonsums sowie einem unerlässlichen Mund versehen. Ein Paar Ohren und sich zurückziehendes, graues Haar ohne Vogelnest rundeten die Erscheinung ab. Er trug gern T-Shirts ehemals mehr oder minder provokanter Musikgruppen und ausgewaschene dunkle Jeans.

Sein Charakter bestand aus den Eigenschaften und Tätigkeiten von Persönlichkeiten, welche er angeblich oder tatsächlich kannte, und er redete unermüdlich über diese seine Verbindungen, Bekanntschaften, Freundschaften, wann immer jemand den Fehler machte und ihm durch eine kurze Pause im normalerweise zwanglosen Gespräch die Gelegenheit zu erzählen gab. Meist waren es Menschen mit einzigartigen äußerlichen wie innerlichen Merkmalen, die sie scheinbar herausragend machten, und die er natürlich so gut kannte wie kein anderer.

Manchmal jedoch entfuhr ihm das Missgeschick einer gewöhnlichen Anekdote, von Dingen, die er selbst erlebt hatte, die ihn im allerschlechtesten, also allzu biederen Licht dastehen ließen, so glaubte er es jedenfalls. Das machte ihn dann derart nervös, dass er beinahe neurotisch eine weitaus bessere, weitaus glänzendere Geschichte Dritter, namenlose Prominente, die kein anderer als er selbst kannte, hinterher schieben und zum Besten geben musste, bis er sich wieder sicher fühlte. So eine Erzählung konnte durchaus ihre Viertelstunde dauern, da sie mehrere Episoden über einen größeren Zeitraum hinweg behandelte, welche er indes geschickt zu verbinden verstand und dadurch das Ganze selten ausnahmslos langweilig war, wenn man aufgrund guter Erziehung gewissermaßen gezwungen war zuzuhören.

Hätte er sich im geselligen Miteinander darauf beschränkt, von sich und seinem Leben zu berichten, wären zweifelsohne einige nicht minder interessante Kapitel zustande gekommen. Er ahnte aber, er fühlte sozusagen, ohne es benennen zu können, dass in einer Kultur des Vorzeigens aller Besitztümer, auch der geistigen, die Reduzierung auf das Wesentliche und eigentlich Schöne nutzlos bis unerwünscht war, und so prahlte er fortgesetzt, bis man ihn mindestens für so wichtig hielt wie er es für sein eigenes Wohlbefinden benötigte. Also bestand er aus den Einzigartigkeiten anderer Leute, genauer gesagt aus den Erwähnungen ihrer Einzigartigkeiten, die zu kennen er nicht unterließ zu bekräftigen, ein eigentlich trauriger, maskierter, unerfüllter Mensch.

In seiner derzeitigen Arbeitslosigkeit traf man ihn tagsüber, auch bei bestem Wetter, ausschließlich im Garten an. Dort rauchte oder dampfte er in den Schaffenspausen, zwischen Unkrautentfernen und Heckenschneiden, nach dem Rasenmähen oder auch währenddessen, bis seine Frau, frisch von der Arbeit und in letzter Zeit kurz vor dem Nervenzusammenbruch, ihn zum warmen Abendessen rief. Er hatte zwar die Zeit, doch nicht das Wissen, für beide zu kochen zur Verfügung, und das lag unter anderen daran, dass er ein Mann war. Er kümmerte sich um den Garten und ließ überdies seine Gattin weitestgehend verschont, von einigen Schimpftiraden über die Arbeitspolitik im Allgemeinen und die Arbeitsagenturen im Besonderen, die hin und wieder am Essenstisch ihren Weg in die Außenwelt fanden, einmal abgesehen.

Vor dem Fernseher endete für gewöhnlich der Tag, jeder Tag eigentlich, auch und gerade an Wochenenden, und diese durchaus nicht schädliche Routine (nein, ein Liebesleben gab es nicht mehr, es war vor einiger Zeit in gegenseitigem Einvernehmen eingestellt worden) wurde nur durch halbjährliche Camping-Urlaube an ein und demselben Ort, welcher an einer der verbliebenen deutschen Seeküsten lag, unterbrochen.

Und dieser M. saß nun neben K. und versuchte ihm etwas über die momentane Wirtschaftslage Südeuropas anhand der Eskapaden „seiner“ Hells Angels in Spanien und/oder Portugal zu erklären, denen er sich in gewisser Weise verbunden fühlte, von welchen er sich jedoch in scharfer Abgrenzung als nicht zugehörig erkannt werden wollte.

K. sah auf sein Smartphone: genau 8 Uhr 15. Es waren noch 45 Minuten bis zum Beginn des Tagesprogramms. Dieses Frühstück war eigentlich schon lange vorbei. Die belegten Brötchen einige Etagen tiefer, wahrscheinlich machten sich die Magensäfte bereits eifrig daran, alles Mögliche zu spalten und weiterzuleiten, meldeten K. Vollzug in Form kaum merklicher Geräusche, das Nachknurren nach der Mahlzeit. Er hatte insgesamt nur vier Minuten für das Essen gebraucht, den Kaffee nicht mit eingerechnet.

M. redete weiter von Elendsdörfern, die „seine“ Kraftradführer auf der Reise im Süden durchfahren hatten, endlos wirkenden Straßen an der iberischen Rundumküstenlinie, von Sprachbarrieren und Saufgelagen, und irgendwann hörten K. und die anderen auf zu nicken, denn das Wichtigste – die Bekanntschaft M.s mit den Hells Angels – war bereits gesagt worden, außerdem verstand J. von seiner Heimat Portugal weitaus besser, weil langsamer und rücksichtsvoll, zu erzählen. (…)«

© Simon-Christian Karuhn 2019


Posted

in

by

Comments

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..